Community-Journalismus

„Journalismus mit dir“ bei Relevanzreporter in Nürnberg

Community-Journalismus gilt als das Gebot der Stunde. Doch wieso? Und wie funktioniert community-basierter Journalismus? Was sind Vor- und was Nachteile? Alexandra Haderlein, Gründerin und Geschäftsführerin der Relevanzreporter gUG aus Nürnberg, gibt Einblick in die Forschung, erzählt ihre Geschichte und gibt praktische Hinweise für den partizipativen Redaktionsalltag.


Deutschlands Lokalmedien haben eine große Aufgabe: die Demokratie stärken. Doch wie sollen sie dieser Aufgabe gerecht werden, wenn sich immer weniger Menschen von den bestehenden Lokalangeboten angesprochen fühlen? Junge Menschen, haben oftmals ein komplett anderes Mediennutzungsverhalten als die Tageszeitung am Frühstückstisch zu lesen. Und ältere Menschen nehmen einen steten Qualitätsverlust aufgrund des massiven Sparzwangs bei den Lokalmedien wahr. Die Konsequenz: Die Bürger:innen einer Stadt oder Region und die Lokalmedien driften immer weiter auseinander.

Wie können wir Medienschaffende diesen Informationsabriss stoppen, ja, umkehren? Dies war die Ausgangsfrage des Forschungsprojekts von mir im Jahr 2020. Im Rahmen eines sogenannten „Research & Development Fellowships“ des Media Lab Bayern befasste ich mich zwei Monate in Vollzeit mit Ursachenforschung und Problemlösung – und erlangte erste Berührungspunkte mit nutzerzentrierter Produktentwicklung.

Zunächst stand da die Umfrage, wie zufrieden die Generation der Millennials mit dem bestehenden Lokalangebot ist, was sie erwartet, vermisst et cetera. Bereits damals beteiligten sich weit mehr als nur die Millennials. Die Ergebnisse der Forschungszeit grob zusammengefasst: Die Art der Berichterstattung wurde oftmals als unausgewogen oder oberflächlich wahrgenommen. Dabei möchten die Nutzer:innen den Medien vertrauen können und erwarten nicht nur oberflächliche Information, bitten gleichzeitig aber auch um nicht allzu viel benötigtes Vorwissen und vor allen Dingen, um Themen, die sie wirklich interessieren.

Das Team von Relevanzreporter in Nürnberg.
Foto: Thomas Geiger

Community-Journalismus ist die Antwort

Für mich war damit klar: Wir, Medienschaffende, müssen wieder deutlich stärker als bisher zuhören und auf die Nutzer:innen eingehen. Das ursprünglich rein als Forschungsprojekt gedachte Vorhaben identifizierte also ein Bedürfnis bei den Konsument:innen und führte so zum Newsletter und kurz darauf der Webseite lokalblog-nuernberg.de – dem Prototypen der heutigen Relevanzreporter gUG, Deutschlands erstem Lokalmedium mit Community-Journalismus.

Beim Community-Journalismus (auch: community-basierter Journalismus) arbeiten die Mediennutzer:innen an der Entstehung des Mediums mit. Auf welcher Stufe ist unterschiedlich: bei der Konzeption des Unternehmens, bei der Entwicklung der Produkte, bei der Themenauswahl, bei Recherchen (Stichwort Crowdrecherche) oder beim Erstellen von Beiträgen. Die Mittel, um diese Partizipation zu ermöglichen, sind vielfältig: Aufrufe auf den bestehenden Kanälen, Veranstaltungen, Umfragen, Infostände, Pop-up Redaktionen, offene Redaktionszeiten, etc. Zu prüfen ist, ob digitale oder analoge Kanäle bespielt werden, oftmals ist eine Mischung zielführend.
Der Community-Journalismus entstand aus der Erkenntnis, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr von den Medien abgeholt fühlen und darum die Zugriffszahlen sinken. Das ist problematisch, weil der (Lokal-)Journalismus damit seine Funktion als Wächter der Demokratie nicht mehr wahrnehmen kann.

Mittlerweile wirken rund 20 professionell ausgebildete Medienschaffende aller Arten an dem Nürnberger Start-up mit. Dessen Kern-DNA: Zukunfts-, lösungs- und gemeinwohlorientierter Journalismus auf Community-Basis – in Form von Recherchen auf relevanzreporter.de, als Newsletter, Podcast und auch in Form von Events. Die Formen von Community-Journalismus hat die Redaktion über die Jahre hinweg dank verschiedener Stipendien und mit internationalen Medienpartnern (Stars4media, Membership Puzzle Project, City University New York) weiterentwickelt.

Bestätigung findet unser Tun in Medien-Nutzungsstudien wie dem Reuters News Report oder auch der Studie des Grimme-Instituts zur Notwendigkeit von konstruktivem Journalismus, an dem ich mitgewirkt habe und die den Grundstein für das heutige Bonn-Institut, einem Thinktank für konstruktiven Journalismus, legte. Des Weiteren wurden die Relevanzreporter 2022/23 vom European Journalism Center und dem Solution Journalism Network zum Deutschland-Botschafter für lösungsorientierten Journalismus ernannt.


Wie geht’s nun konkret

a) Die Produktentwicklung

Nahezu alles, was bis heute von den Relevanzreportern (RR) im Internet zu finden ist, ist mit den Nutzer:innen entstanden: vom Namen übers Design bis hin zum Bezahlmodell und einzelnen Recherchen. So entstand beispielsweise die Vanillefarbe (statt des sonst web-üblichen Schwarz-Weiß) des RR-Designs aufgrund eines Hinweises aus dem Rat für Menschen mit (Seh-)Beeinträchtigungen in Nürnberg. Und der Name „Relevanzreporter“ ist das Versprechen an unsere Nutzer:innen, die diesen Begriff in uns sahen/ erfüllt sehen wollen.

b) Die Themenbestimmung

Damit die Nutzer:innen die Inhalte für sie als relevant erachten, setzen die Relevanzreporter auch hier auf Partizipation. Unter anderem können die Besucher:innen des Museums für Kommunikation in Nürnberg, dort sogar eines der nächsten Recherchethemen bestimmen. Der neueste Kooperationspartner der Relevanzreporter hat das Start-up als Beispiel für innovativen, zukunftsträchtigen Lokaljournalismus in Deutschland in seiner neuen Dauerausstellung verankert.

c) Die Perspektivenvielfalt

Eine der drei Aufgaben von konstruktivem Journalismus ist es, demokratische Debatten zu ermöglichen und die Graustufen zwischen zwei Polen eines Themas zu zeigen. Dies gelingt den Relevanzreporter:innen, indem sie versuchen, möglichst viele Erfahrungswerte, Fragen und Meinungen in ihre Recherchen einzubauen. Sie fragen deshalb immer wieder bei ihren Nutzer:innen nach oder laden sie direkt zur Beteiligung ein – unabhängig vom Kanal. Das sorgt für Informationstiefe, stärkt die Selbstwirksamkeit der Menschen in der Region und über die Perspektivenvielfalt letztlich auch die Toleranz – ein Zweck für den die Relevanzreporter auch vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt wurden.

Livestream einer eigenen Veranstaltung über den Instagram Kanal der Relevanzreporter.
Foto: Tilman Grewe

Vor- und Nachteile

Die Vorteile liegen damit auf der Hand. Die Nachteile eigentlich auch.

a) Die Zeit

Ohne Abstimmungsprozesse können Entscheidungen deutlich schneller fallen. Viel nachhaltiger werden sie jedoch durch den Rückhalt vieler. Dieser Zeitfaktor muss in der Planung jedoch berücksichtigt werden: Mal eben schnell Thema xy umsetzen, geht nicht. Breaking News und Partizipation mögen in einem Live-Stream noch zusammengehen, doch wenn es thematisch tiefer gehen soll, braucht es mehr Zeit für die Vor- und auch Nacharbeit.

b) Die Entscheidungsfindung

Selten, aber möglich: Manchmal sind die Rückmeldungen aus der Community uneindeutig bis komplett ausgewogen. Was tut man dann? Oftmals liegt es an einer unkonkreten Fragestellung. So oder so ist mehr Nachbohren und/oder eine Konkretisierung der Fragen nötig, um eine valide Antwort zu bekommen. Und damit braucht es erneut mehr Zeit.

c) Die Vereinnahmung

Dies ist zu Beginn sicherlich kein Thema und auch für die Relevanzreporter gUG zum Glück bislang eher Theorie als tägliche Praxis, aber gewappnet sein, sollte man trotzdem, insbesondere weil es enormes Fingerspitzengefühl erfordert: Je größer und bekannter man wird, desto mehr Menschen zieht man möglicherweise auch an, die eine eigene Vorstellung von der Arbeit eines neuen Medienangebotes haben. Hier vorab eine Idee zu haben, wie man sich und sein Unternehmen vor Vereinnahmung und Beeinflussung (redaktionell und auch finanziell) schützt, schadet sicherlich nicht. Ein erster Schritt: Wissen, wofür man selbst steht und wofür nicht. Im Alltag kann man dann im Zweifel immer wieder darauf verweisen.

Unser Fazit

Für die Redaktion der Relevanzreporter aus Nürnberg war die nutzerzentrierte Produktentwicklung DER Schlüssel. Woher sonst hätten wir damals wissen sollen, was die Nutzer:innen von uns erwarten? Viel zu lange haben wir, Journalist:innen, im so oft zitierten Elfenbeinturm gesessen und „das Blatt gemacht“, was als Abonnementzeitung ohnehin am nächsten Morgen beim Leser oder der Leserin am Frühstückstisch lag oder als Programm in Radio oder Fernsehen lief. Doch diese Zeiten sind vorbei. Unzählige Nachrichten prasseln auf die Rezipient:innen tagtäglich ein, sie entscheiden, ob, wo und wie sie unsere Inhalte konsumieren wollen. Wollen wir in deren Alltag eine Rolle spielen, müssen wir stärker zuhören und deren Themen spielen – oder ihnen erklären, warum auch andere einen Bezug zu ihrem Leben haben.

Wir Journalist:innen, haben zahlreiche, sogar gesetzlich verbriefte, Rechte. Diese haben wir nicht umsonst! Sondern weil wir Wächter der Demokratie sind. Wir sind es, die wachsam sind, die kritisch recherchieren, die gewisse Vorgänge erklären und damit für freie Informationen aller Bürger:innen sorgen. All das ist nicht nur eine Aufgabe von Investigativ-Journalist:innen, sondern die von allen Journalist:innen und im 21. Jahrhundert gehört hierzu auch der konstruktive Dialog mit den Nutzer:innen. Denn deren Wahlfreiheit an Medienangeboten war nie größer als heute. Es liegt an uns, die Menschen neu zu begeistern und damit der Gesellschaft, ja, der Demokratie zu dienen.

Unsere Demokratie basiert auf dem Prinzip der Gewaltenteilung. Legislative (Gesetzgebung), Judikative (Rechtsprechung) und Exekutive (ausführende Gewalt, Verwaltung) sind voneinander getrennt. Die Medien werden oft als „Vierte Gewalt“ oder „Wächter der Demokratie“ bezeichnet. Gemeint ist damit, dass wichtige Medien wie Zeitungen, Fernsehen, Radio und Internet einerseits über das Handeln des Staates und seiner Institutionen informieren sollen. Andererseits aber kontrollieren die Medien durch ihre Berichterstattung auch das staatliche Handeln. Sie informieren, geben kritische Kommentare und regen dazu an, sich mit dem staatlichen Handeln auseinanderzusetzen. Diese Kontrolle der Regierenden durch die freien Medien ist ein wesentlicher Grundzug von demokratischen Gesellschaften. (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung)
In diesem Bereich liegt großes Wirkungspotential für Lokalmedien, denn Studien zeigen, dass Korruption und Wahlverdrossenheit überall dort zunehmen, wo die Lokalberichterstattung zurückgeht.

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