Inklusiv investigativ recherchieren

Wie sich andererseits und DOSSIER zusammenschlossen 

Unser Blick fällt selten auf Österreich. Dabei gibt es dort einige spannende Medienprojekte, die Journalismus neu denken. Eines davon ist andererseits, das Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt seiner Arbeit rückt. Ein anderes Projekt ist DOSSIER, das sich seit gut elf Jahren am Markt behauptet. Erst kürzlich haben sie ein gemeinsames Heft herausgebracht. 


In der Beschreibung des gemeinsamen Magazins „Ausgleichstaxe: Behinderungen am Arbeitsmarkt – Österreichs Irrweg“ steht: „Menschen mit Behinderungen stehen im Laufe ihres Lebens vor zahlreichen Barrieren – von der Schule bis zum Arbeitsmarkt.“ andererseits-Geschäftsführerin Clara Porak ist das Thema durchaus vertraut, denn ihr Bruder Matthias, mit dem sie aufgewachsen ist, hat das Down-Syndrom. 

In einer fünfteiligen Serie zum Thema Geschwister hat Porak ihre Erfahrungen aufgeschrieben. Unter anderem heißt es in ihrem Erklärtext: „Die Welt passt viel besser zu mir als zu ihm. Das finde ich unfair. (…) Wie mir geht es vielen Menschen: 11 Millionen Leute in Deutschland und Österreich haben eine Behinderung. (…) Ich möchte gemeinsam überlegen, wie sich unsere Gesellschaft verändern würde, wenn alle Menschen gleichberechtigt daran teilhaben können.“ 

andererseits wurde vor zwei Jahren gegründet. In der Redaktion arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung. Clara Porak sagt, dass sich dadurch ihr Denken über den Journalismus verändert habe. Als freie Journalistin sei es ihr wichtig gewesen, was andere in der Medienbranche über ihre Reportagen sagten. Das sei ihr inzwischen egal. Viel zentraler sei, dass ein Text die Menschen erreiche und ihnen einen echten Nutzen biete. Deshalb sind alle Texte auf https://andererseits.org/ in leichter Sprache verfasst bzw. übersetzt. 

Nikolai Prödöhl (rechts) ist Teil des Redaktionsteams von andererseits, er schreibt gerne über Themen wie Inklusion und Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Unterschied zwischen Einfacher und Leichter Sprache 

Die Begriffe „Einfache Sprache“ und „Leichte Sprache“ beziehen sich beide auf Ansätze zur Gestaltung von Texten, die darauf abzielen, Informationen zugänglicher zu machen. Obwohl sie oft synonym verwendet werden, gibt es wichtige Unterschiede. 

Einfache Sprache richtet sich an Personen mit durchschnittlichen Sprachkenntnissen, die aber möglicherweise mit komplexen Textstrukturen oder Fachwörtern Schwierigkeiten haben. Dazu können auch Menschen mit geringerem Bildungsstand oder jene, die die betreffende Sprache als Zweitsprache lernen, gehören. Die Einfache Sprache verwendet kurze Sätze, vermeidet Fachjargon und erklärt notwendige Fachbegriffe. Sie strebt nach Klarheit und Verständlichkeit, ohne dabei auf eine gewisse Tiefe in der Informationsvermittlung zu verzichten.

Die Leichte Sprache ist speziell für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Einschränkungen gedacht, wie zum Beispiel Personen mit geistiger Behinderung. Sie kann auch für Menschen hilfreich sein, die sehr wenig oder gar kein Deutsch sprechen und für ältere Menschen mit Verständnisschwierigkeiten. Die Leichte Sprache geht noch weiter in der Vereinfachung als die Einfache Sprache. Sie nutzt sehr kurze Sätze, einfache Wörter und unterstützt den Text häufig mit Bildern oder Symbolen zur besseren Verständlichkeit. Komplexe Informationen werden in die einfachstmöglichen Begriffe und Strukturen zerlegt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einfache Sprache auf ein breiteres Publikum abzielt, um die Zugänglichkeit von Informationen zu erhöhen, während die Leichte Sprache speziell darauf ausgerichtet ist, Menschen mit besonderen Bedürfnissen beim Verständnis von Texten zu unterstützen.

Vom Traum Inklusion zu einem tragfähigen Geschäftsmodell

Unabhängigkeit ist Clara Porak wichtig. Deshalb setzen sie und ihr Team in erster Linie auf Abonnent*innen. Aktuelles Ziel: 2.000, damit sie vier gedruckte Hefte im Jahr herausbringen können. Das erste gedruckte Magazin hielten sie im Winter 2023 in den Händen. Es handelte sich um eine Kooperation mit dem investigativen Digitalmagazin DOSSIER, das ebenfalls in Wien beheimatet ist. 

DOSSIER behauptet sich seit mehr als elf Jahren am österreichischen Markt. Florian Skrabal ist Chefredakteur und Geschäftsführer von DOSSIER. Es gibt sechs Angestellte und ein Dutzend freie Journalist:innen und Grafiker:innen. Die Mission ist, Journalismus im öffentlichen Interesse zu machen, mit dem Fokus auf Investigativ- und Datenjournalismus. 

Skrabal sagt: „Wir arbeiten ganz old school – recherchieren lange und tiefgründig, treffen Menschen und machen uns viele Gedanken über eine moderne Aufbereitung.“ Das Ziel: mit unterschiedlichen Formaten unterschiedliche Zielgruppen erreichen. Seit 2019 gibt die Redaktion neben digitalen Texten auch gedruckte Magazine heraus. Dabei widmet sie sich einem Schwerpunktthema, wie jüngst Sportwetten, Missständen in Pflegeheimen oder eben Behinderung am Arbeitsmarkt. 

Skrabal meint, dass durch das Magazin ein rasanter Anstieg der zahlenden Mitglieder zu verzeichnen war, weil man den Menschen damit ein konkretes Endprodukt in die Hand geben könne. Auf Werbung habe man bewusst verzichtet, um Interessenkonflikte zu vermeiden, die mit Anzeigenkunden entstehen könnten. Außerdem wollten er und seine Redaktion „nicht auf ein Pferd setzen, das immer mehr lahmt“. Stichwort wegbrechende Werbegelder im Medienbereich. 

Öffentliche Inserate verzerren den Medienmarkt

In Österreich werden jährlich etwa 200 Millionen Euro durch öffentliche Stellen wie Ministerien und öffentliche Unternehmen für Medieninserate ausgegeben, was den Rückgang der Anzeigeneinnahmen mildert und dazu beiträgt, dass – trotz Medienkrise – bisher nur wenige Tageszeitungen eingestellt wurden. Die oft freihändige Vergabe dieser Inserate ohne formale Ausschreibung hat zu einer problematischen Abhängigkeit zwischen Politik und Medien geführt.

Für beide Projekte kommen diese Inserate zwar als Finanzierung nicht in Frage, aber es führt deutlich vor Augen, welche Rahmenbedingungen den österreichischen Journalismus prägen. Die Finanzierung von andererseits und DOSSIER ist vielmehr eine Mischkalkulation. andererseits hat zwei Filme gedreht, die jeweils mit externem Funding gestemmt werden konnten. DOSSIER treibt erfolgreich Spenden ein. andererseits hat eine GmbH und einen Verein, DOSSIER verfügt ebenfalls über beide Körperschaften. Beide Geschäftsführungen wollen Strukturen aufbauen, die nachhaltig funktionieren und guten Journalismus ermöglichen. 

Guter Journalismus ist für andererseits: inklusiv und fair bezahlt. Clara Porak erklärt: „Menschen in unserem Team wollen Geld für ihre Arbeit bekommen – und wir glauben, das ist ein legitimer, wichtiger Wunsch.“ Gleichzeitig will das Projekt über Wien hinauswirken und gibt zum Beispiel Workshops, um aufzuklären, was nötig ist, um mehr behinderte Menschen in Redaktionen einzubinden. 

Denn wenn man sich nicht genau darum bemühe, gehe eine wichtige Perspektive verloren, ist Porak überzeugt. Man spricht von etwa zehn bis 15 Prozent in der Bevölkerung, die eine Behinderung haben. In Deutschland wären das mehr 11 Millionen Menschen. Darunter fallen Menschen mit körperlichen Einschränkungen, chronischen Erkrankungen, aber auch Autist:innen und psychische Behinderte. 

Positivbeispiel: BBC aus Großbritannien

Als Positivbeispiel nennt sie die BBC in Großbritannien, bei der man sich die Quote von zehn Prozent gesetzt hat: Zehn Prozent der Mitarbeitenden sollen Menschen mit Behinderung sein und zehn Prozent derjenigen, die im Programm zu Wort kommen. So untertitelt die BBC 97 Prozent aller Sendungen. 

Weitere Möglichkeiten für Inklusion hat andererseits in diesem Leitfaden „Richtige Worte? Sensibel über Behinderung sprechen“ zusammengefasst. Wichtig sei, dass die Behinderten im Team nicht nur über ihre Behinderung schrieben, sondern auch andere Themen beleuchteten – wie die Ungerechtigkeiten am österreichischen Arbeitsmarkt, zusammen mit DOSSIER. 

So sieht das gemeinsame Heft von andererseits und DOSSIER aus.

Florian Skrabal sagt zur Kooperation: „Die Zusammenarbeit mit den Kolleg·innen von andererseits war menschlich und beruflich bereichernd, einfach toll. Wir haben viel gelernt; etwa wie man Fragen einfacher stellt oder einfacher schreibt. Das war auch herausfordernd, hat unseren Journalismus aber letztlich besser gemacht.“ 

Wenn man ihn nach den Learnings aus elf Jahren Leitungsfunktion fragt, antwortet er: „Das Wichtigste ist, eine eigene Mission und ein Alleinstellungsmerkmal zu haben.“ Das heiße auch, dass man Dinge sein lässt, die nicht zu diesem Alleinstellungsmerkmal passen. Und das Zweite ist aus seiner Sicht: Durchhaltevermögen und ein langer Atem. 

„So ein Projekt wie DOSSIER ist auch nach so langer Zeit nicht in trockenen Tüchern, es ist ein ständiger Kampf ums Geld, um die Finanzierung. Das heißt, die 6.000 zahlenden Mitglieder bei der Stange zu halten und parallel dazu professionelle journalistische Arbeit abzuliefern.“ Die Redaktion hat gute Erfahrungen damit gemacht, Synergien zu nutzen. Konkret: Wie lassen sich Recherchen mehrfach verwerten? 

Zum Beispiel hat DOSSIER mit österreichischen Fernseh- und Theaterproduktionen zusammengearbeitet und monothematische Recherchen umgesetzt. Diese Recherchen sind darüber hinaus auch in Magazinbeiträge und Onlineartikel geflossen, oder in den eigenen Podcast. Das würde er anderen Gründer:innen ebenfalls wärmstens ans Herz legen.

Fokus, Fokus, Fokus

andererseits-Geschäftsführerin Clara Porak nennt den Fokus als ihr wichtigstes Learning mit der zentralen Frage, die sich regelmäßig stellt: Wo wollen wir hin? So hat die Redaktion beispielsweise Events veranstaltet, aber da so etwas aufwändig ist und sich am Ende kaum rentiert, hat sie es bald wieder sein lassen. Außerdem solle man sich als Gründer:in immer damit auseinandersetzen: Für wen ist eigentlich der Journalismus, den ich mache? Welches Problem löse ich für meine Nutzenden? 

Im April hat die Redaktion von andererseits vor dem Parlament in Wien darauf aufmerksam gemacht, dass 700k – also 700.000 Menschen – in Österreich irgendeine Form der Beeinträchtigung aufweisen.

Im Frühjahr 2024 hat die Redaktion ihr erstes eigenes Printmagazin veröffentlicht. Im Newsletter wurde unter anderem Grafiker Gabriel Gschaider aus Wien vorgestellt. Er sagt, dass die Arbeit am Heft aus zwei Gründen besonders war. Erstens habe man ein Arbeitsumfeld geschaffen, das für alle gut funktioniert habe. 

Zitat: „Manche Menschen können nur von zu Hause mitmachen, oder nicht solange im Büro sein, weil es zu anstrengend ist. Da ist es wichtig die Bedürfnisse vorab zu klären.“ Er selbst sei davon betroffen, weil er eine chronische Krankheit namens ME/CFS habe und keine längeren Wegstrecken auf sich nehmen könne. 

Und die zweite zentrale Frage war die nach Barrierefreiheit. „Es ist wichtig viele Menschen zu fragen, ob das Design für sie gut ist, weil man einfach nicht so viele Erfahrungswerte hat. Es geht viel ums Ausprobieren und darum zu schauen, ob es auch verstanden wird. Zum Beispiel: ob die Schriftgröße groß genug ist, oder die Bilder verstanden werden.“ 

Er habe darauf geachtet, dass die Seiten sehr klar strukturiert sind und auf grafische Spielereien verzichtet. Außerdem sei die Farbe aller Texte Schwarz, weil das am Leichtesten zu lesen sei. All das sind auch Punkte, die bei der Kooperation mit DOSSIER bei „Ausgleichstaxe“ eine wichtige Rolle gespielt haben. 

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