Journalismus für alle?

Wenn Teilhabe und Journalismus Hand in Hand gehen

Die Bürger:innen-Redaktion des karla Magazins in Konstanz verfolgt einen neuen Ansatz im Lokaljournalismus. Denn: Hier gestalten Bürger:innen die Inhalte aktiv mit. Warum, weshalb, warum – dieser Artikel liefert die Antworten.


Was ist eigentlich eine Bürger:innen-Redaktion? Seit April 2024 höre ich diese Frage wöchentlich. Denn seitdem darf ich als Leitung der Bürger:innen-Redaktion beim karla Magazin in Konstanz Lokaljournalismus und Teilhabe miteinander verbinden. Damit geht für mich ein Traum in Erfüllung. Zwei meiner Herzensthemen können in einem Projekt Hand in Hand gehen. Jetzt, einige Monate später, schaue ich zurück: Was lief bisher gut? Wo gibt es Verbesserungspotenzial? Und was steht in den nächsten Wochen an?

Nachdem das karla Magazin Ende 2023 den Betrieb vorläufig einstellen musste, brachte das neue Jahr einen Relaunch mit sich. Dank einer Förderung der Deutschen Postcode Lotterie über 100.000 Euro konnte karla in neuer, kleinerer Besetzung und mit anderem Fokus weitermachen. Mit Pauline Tillmann als Geschäftsführung und Redaktionsleitung von werkzeugkasten.media, Noah Gora als Community-Manager und mir als Leitung der Bürger:innen-Redaktion. Aktuell setzen wir also zwei Projekte in die Tat um: Die Bürger:innen-Redaktion „karla im Quartier” und die Weiterentwicklung von werkzeugkasten.media.

Das neue karla-Team 2024 (v.l.n.r.): Noah Gora, Sophie Tichonenko, Pauline Tillmann. I Foto: Milena Schilling

Also zurück zur Eingangsfrage: Was ist eine Bürger:innen-Redaktion? Inzwischen habe ich eine ziemlich konkrete Antwort. Im März war das noch ganz anders. Da habe ich bei anderen Redaktionen nachgefragt, wie sie Teilhabe bei sich umsetzen.

Die Erfahrungen von kohero und CORRECTIV.Lokal

Hussam Al Zaher, Gründer des „kohero“ Magazins erklärt, dass die direkte Einbindung von Bürger:innen viele wertvolle Geschichten und Perspektiven hervorbringt, die sonst möglicherweise nicht erzählt würden. Der Fokus bei „kohero“ liegt darauf, die Geschichten und Meinungen von Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind, in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. Dabei betont Al Zaher, wie wichtig regelmäßige Treffen für die aktive Beteiligung der Community sind. Eine der größten Herausforderungen ist in seinen Augen die kontinuierliche Motivation und das Engagement der Bürger:innen. Für ihn ist klar: Es braucht Struktur und klare Deadlines.

Auch Jonathan Sachse, Leiter von CORRECTIV.Lokal und Gründungsmitglied von CORRECTIV, erzählt von den verschiedenen Herausforderungen, die hinter Beteiligungsprozessen stecken. Die Erwartungen der Bürger:innen sind für ihn dabei der größte Aspekt. Er erzählt, wie es immer wieder zu Situationen kam, in denen Bürger:innen davon ausgegangen sind, alle Themen, die ihnen wichtig sind, einfach platzieren zu können. So einfach ist das jedoch nicht.

Bei der letzten Bürger:innen-Konferenz waren Cara (rechts) und Anton (links) dabei. I Foto: Sophie Tichonenko

Auch nicht bei uns. So findet beispielsweise alle ein bis zwei Monate eine Redaktionskonferenz der Bürger:innen-Redaktion statt, in der wir gemeinsam überlegen, welche Themen gut passen, an welcher Stelle noch weiter gearbeitet werden muss und wie die Inhalte auf Social Media ausgespielt werden können – all das, zusammen mit den Bürger:innen. Leider kam es auch hier mehrmals vor, dass anfangs acht Leute zugesagt haben und am Ende nur zwei zur Redaktionskonferenz erschienen sind. Das soll kein Vorwurf, vielmehr eine Erinnerung sein: an mich, an uns, die wir mehr Menschen im Prozess mitnehmen wollen. Wie können wir Hürden abbauen und die Motivation weiter erhöhen?

Was wirklich dahinter steckt

Jonathan Sachse betont, dass er in den letzten Jahren ein tiefes Verständnis dafür entwickelt hat, was Zusammenarbeit wirklich bedeutet – vor allem im journalistischen Kontext, der traditionell nicht immer kollaborativ war. Darin liegt für mich eine der größten Herausforderungen. Denn auch die Community ist es nicht gewohnt, in die journalistische Praxis einbezogen zu werden, geschweige denn, selbst Texte, Fotos oder Videos zu produzieren. In der Kommunikation nach außen reicht es also nicht, einfach zu sagen: „Unsere Türen stehen offen, bringt eure Themen mit.“

Wir müssen die Menschen an ganz anderer Stelle abholen. Wir müssen dort ansetzen, wo die Menschen mit dem Herzen dabei sind. Bei den Themen, die sie wirklich bewegen. In unserer sogenannten „offenen Sprechstunde“, die regelmäßig in unterschiedlichen Quartieren stattfindet, kam bei den Bürger:innen oft die Sorge auf, dass sie das alles ja gar nicht könnten, dass sie sich nicht zutrauen, einen Text zu verfassen, der journalistischen Kriterien entspricht.

Immer wieder sind wir im Gespräch über diesen Punkt hinausgekommen. Ich konnte erklären und zeigen, dass ich im gesamten Prozess immer als eine Art Mentorin, als Sparringspartnerin zur Verfügung stehe. In einzelnen Fällen starteten wir auch mit dem Versuch, ein Schreibtandem nach dem Vorbild von kohero umzusetzen. Hussam Al Zaher hatte viel Gutes darüber berichtet und auch bei uns fand die Idee Anklang.

In einem Schreibtandem erarbeiten zwei Menschen zusammen einen Text: Eine Person liefert die Geschichte, die andere hilft bei der sprachlichen Umsetzung. kohero hat diese kollaborative Form entwickelt, um Menschen ohne perfekte Deutschkenntnisse zu ermöglichen, ihre Geschichten auf Deutsch zu erzählen. Die Schreibtandems ermöglichen hier Teilhabe von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung am gesellschaftlichen Diskurs. Wie das bei kohero genau funktioniert, beschreiben sie hier. Eine andere Form eines Schreibtandems ist das Ghostwriting, bei dem ein Text im Namen einer anderen Person verfasst wird, wie das häufig bei Promi-Biografien der Fall ist.

Der Kaffeekranz von karla soll die Möglichkeit bieten, in ungezwungener Atmosphäre zu plaudern und sich gegenseitig kennenzulernen. I Foto: Sophie Tichonenko

Der Prozess des Mitnehmens bedarf aber noch mehr. Wir haben Onboarding-Emails mit verschiedenen Videos der Reporterfabrik vorbereitet, um den Bürger:innen für die verschiedenen Schritte des Arbeitsprozesses etwas ergänzend zu den persönlichen Treffen an die Hand zu geben. Ich habe regelmäßig mit den Interessierten telefoniert, geschrieben oder sie kurz getroffen – auch abseits der Sprechstunde. Denn das war sehr schnell klar: Die von uns gewählten Termine (dienstags 11 bis 13 Uhr) waren nicht optimal und so war es immer wieder wichtig, dass ich flexibel auf die Umstände der Bürger:innen reagiere.

Über das konkrete Vorgehen

„Was bewegt dich?“ Diese Frage steht im Mittelpunkt der offenen Sprechstunde. Bürger:innen kommen angemeldet oder unangemeldet vorbei. Es gibt Kaffee, Wasser und Snacks und wir sprechen in entspannter Atmosphäre darüber, was sie bewegt. Ist das einmal ausgemacht, überlegen wir gemeinsam, welche Themen darunter liegen, die für die Stadtgesellschaft relevant sein können.

Wir haben uns gefragt, welche Perspektiven bisher fehlen und wie wir einen Raum für neue Themen eröffnen. Im nächsten Schritt geht es an die Recherche und den Schreibprozess. Beides in enger Absprache zwischen mir und den Bürger:innen. Sobald die Texte stehen, gehen sie an unsere Lektorin Eva Tempelmann und wieder zurück zu den Bürger:innen. Und dann, wenn alles glattläuft, erscheint kurz darauf ein neuer Artikel aus der Bürger:innen-Redaktion im karla Magazin.

Es kommen viele Themen und Menschen zusammen. Innerhalb von vier Monaten waren knapp fünfzehn Bürger:innen im Alter von 22 bis 75 Jahren bei mir in der Sprechstunde. Das Resultat sind zwei veröffentlichte Artikel und mehrere Recherchen, an denen aktuell alleine, mit mir zusammen oder im Tandem gearbeitet wird.

Der Startschuss ins erste Quartier, unser „Kick-Off Event” im Quartiersladen Allmannsdorf, war für uns eine Möglichkeit, Ideen und Wünsche der Community einzufangen. Es ging um Inklusion – thematisch und sprachlich. Mit einzelnen englischen Übersetzungen unserer Texte versuchten wir das gleich in die Tat umzusetzen. Besonders oft ging es aber darum, dass den Menschen der Blick auf die darunterliegenden Themen fehlt. Warum sind die Wohnungen kaum bezahlbar? Wie können Jugendliche besser angesprochen werden? Was bedeutet Teilhabe?

Beim Kick-off-Event im Quartier in Allmannsdorf hat sich ein Mitbürger aus Gambia (Mitte) gewünscht, dass karla Artikel in englischer Sprache veröffentlicht. I Foto: Niko Häse

Wer sind die Engagierten?

Ich war immer wieder erstaunt, wie viel Expert:innenwissen sich in den offenen Sprechstunden zum Vorschein kam. Und jedes Mal lag die Motivation zugrunde, mehr Menschen mitzunehmen und sich für Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft einzusetzen. Die Bürger:innen hatten klar vor Augen: Wir müssen im Lokalen handeln und Dinge verändern. Wir wollen etwas dazu beitragen, dass mehr miteinander gesprochen wird und Themen Raum bekommen, die im Trubel des Alltags und der schnellen Nachrichtenmeldungen untergehen.

Da waren Wissenschaftler:innen, die ihre Kernthemen mal so aufbereiten wollen, damit sie mehr Menschen verstehen. Eine Mutter von sechs Kindern und langjährige Schulbegleiterin, die weiß, welche Konflikte im Zwischenmenschlichen lauern, wenn der Dialog verlorengeht. Da waren Stadtplaner:innen, Kosmetiker:innen, Architekt:innen, ehemalige Tontechniker:innen, Rentner:innen, Studierende, Dokumentarfilmer:innen aus Peru oder Journalist:innen aus Gambia oder der Ukraine, die den Weg zu mir in die Sprechstunde gefunden haben oder digital in den Austausch gekommen sind.

Cara Hofmann hatte erst kürzlich ein Praktikum bei der taz absolviert und wollte die Chance nutzen, weiterhin zu schreiben. Kurz darauf erschien ihr erster Text: In Geschlecht ist allgegenwärtig beschäftigt sie sich mit gendersensiblem Journalismus, Geschlechtern, Gleichberechtigung, Generationenunterschieden und der Rolle des Lokaljournalismus. Für sie ist es wichtig, kleine Projekte wie karla zu unterstützen. Dabei schätzt sie die kurzen Wege und die vielen Freiheiten. Sie sagt: „Ich finde konstruktiven Journalismus und Partizipationsmöglichkeiten in dem Rahmen extrem wichtig, da Journalismus auch Teil der Lösungssuche für gesellschaftliche Probleme sein sollte.“

Enna Bühler war seit dem Neustart des karla Magazins motiviert dabei. „Ich bin Teil von karla, weil ich die Arbeit unfassbar wichtig und nachhaltig finde: karla ist jung, neugierig. Es gibt tatsächlich einen Dialog mit der Stadt und über das, was die Bürger:innen aktuell und im Hinblick auf die Zukunft bewegt.“ Sie nahm die Community mit zu einer Kooperationsveranstaltung vom Theater Konstanz und der Universität Konstanz. In „Das Unsichtbare sichtbar machen“ ging es um Sterneneltern und -kinder und wie wichtig es ist, diese Themen aus der Tabuzone zu holen.

Es liegt noch viel (Überzeugungs-)Arbeit vor der Bürger:innen-Redaktion in Konstanz, aber der Anfang ist gemacht. I Foto: Sophie Tichonenko

Und jetzt?

Fünf Monate später kann ich sagen, dass eine Bürger:innen-Redaktion partizipativen Journalismus erlebbar macht. Ich kann zurückblicken auf viele Wochen voller Überraschungen, Planänderungen und zu hohen Erwartungen. Ich sehe und höre aber auch, dass die Bürger:innen-Redaktion Menschen aktiv an der Erstellung von Inhalten teilhaben lässt. Sie ist eine Plattform, auf der sie ihre Ideen und Geschichten einbringen können. Mit dieser Form der Redaktion wollen wir die Beteiligung und das Engagement der Community fördern und dazu beitragen, dass vielfältige Perspektiven und Stimmen Gehör finden.

Verschiedene Altersgruppen, Schichten und Menschen mit internationaler Geschichte sollen sich den Raum nehmen können, der ihnen zusteht, der ihnen in der Gesellschaft und im journalistischen Betrieb oft nicht gegeben wird. Eine ganz schön große Aufgabe, die wir teils schon gut umgesetzt haben. An anderen Stellen ist aber noch Luft nach oben. Jetzt gilt es, aus der bisherigen Zeit zu lernen und nachhaltige Strukturen für partizipativen Journalismus in Konstanz zu schaffen – gemeinsam mit den Menschen in der Stadt.

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