Gegen das Zeitungsterben

Einblicke in das Live-Experiment „Gerda“

Gera gehörte einst zu den reichsten Städten Deutschlands. Die größte Kaufhauskette Europas – Hertie – stammt ursprünglich aus Gera. Trotzdem ziehen viele Menschen weg. Jacob Queißner kam zurück und gründete „Gerda“.

Der Bedarf an gutem Lokaljournalismus wird in den nächsten Jahren steigen. Das wird nicht zuletzt die Präsentation des umfangreichen „Wüstenradars“ Ende November zeigen. Dabei handelt es sich um eine Pionierstudie zum Zeitungssterben in Deutschland und den Folgen für Demokratie und Gesellschaft – erstellt vom Verein Netzwerk Recherche und der Hamburg Media School.

Wie erfrischend, dass es bereits jetzt mutige Gründer:innen gibt, die genau das machen: guten Lokaljournalismus. Jacob Queißner ist einer von ihnen. Er gründete im März 2024 das Projekt „Gerda“ in der ostdeutschen Stadt Gera. Mit gut 95.000 Einwohner:innen ist die Stadt, nach Erfurt und Jena, die drittgrößte in Thüringen. Das Problem: Gera ist keine Universitätsstadt und hat deshalb mit massiver Abwanderung zu kämpfen.

Der kostenfreie Newsletter „Gerda“ erscheint alle zwei Wochen. I Fotos: Jacob Queißner

Auch Jacob Queißner war nach dem Abitur weg – in Nordrhein-Westfalen, um für ein Motorsport-Magazin zu arbeiten. Inzwischen ist er zurück in seiner Heimatstadt und überzeugt, dass er mit seinem Projekt etwas bewegen kann. „Während der Corona-Pandemie habe ich gemerkt, dass es wichtigere Themen gibt als Motorsport“, sagt der 24-Jährige. Also machte er sich als freier Journalist selbstständig und trieb sein Herzensprojekt „Gerda“ voran.

Der Newsletter erscheint alle zwei Wochen und umfasst verschiedene Rubriken wie: Gera Geschehen, Stadtgeschichtliches, Das steht an, Klicken gegen Langeweile, Schon gesehen? und In eigener Sache. Für einen Newsletter benötigt Queißner nach eigenen Angaben etwa zwei Arbeitstage. Diese finanziert er durch freie Aufträge – Schreiben und Fotografieren. Eine Redaktion hat er noch nicht, das meiste macht er weitgehend allein. Dies ist vor allem durch seine geringen Lebenshaltungskosten möglich.

Er wohnt in einer WG und zahlt 100 Euro Miete. Dazu kommen Ausgaben für Lebensmittel. Das bedeutet, dass Queißner aktuelle kaum mehr als 500 Euro zum Leben braucht. Das sind Startvoraussetzungen, von denen viele andere Gründer:innen nur träumen können. Im Oktober 2024 hat er die Zusage für das Grow-Stipendium von Netzwerk Recherche und Schöpflin Stiftung erhalten. Mit den 3.000 Euro könne er nach eigenen Angaben ein halbes Jahr überleben.

Jacob Queißner bei der Arbeit. I Foto: Philipp Gehrhardt

Genug Zeit also, um weiter zu wachsen und über Themen zu berichten, die dem 24-Jährigen am Herzen liegen. Darunter: Die Montagsdemonstrationen der Rechtsextremen in Gera. Die dominierende Tageszeitung – die Ostthüringische Zeitung (OTZ) – gehe seit einiger Zeit nicht mehr zu diesen Demonstrationen, erzählt Queißner. Es sei wichtig, bei den so genannten „Montagsspaziergängen“ präsent zu sein und genau zu beobachten, wer sich dort treffe und was dort passiere. Außerdem sei eine kritische Einordnung unerlässlich.

Auf Nachfrage von werkzeugkasten.media sagt der Chefredakteur der OTZ, Nils Kawig: „Ich kann bestätigen, dass die Lokalredaktion Gera der Ostthüringer Zeitung nicht mehr jede Montagsdemonstration in der Stadt wahrnimmt und / oder darüber berichtet. Das hat nichts mit personellen Kapazitäten zu tun, sondern ist eine redaktionelle Entscheidung. Wir wollen die auf ein Minimum geschrumpfte Truppe nicht aufwerten, indem wir ihr immer wieder eine mediale Öffentlichkeit verschaffen. Falls das Demo-Geschehen wieder anschwellen sollte oder besondere Lagen zu erwarten sind, überprüfen wir unsere Entscheidung.“ Auf die Frage, was er generell von „Gerda“ hält, wollte er sich nicht äußern.

Anfangs hatte Gründer Jacob Queißner an ein Printprodukt gedacht, am liebsten an eine Wochenzeitung. „Das war ziemlich naiv“, sagt er rückblickend. Zwar sei Print „irgendwie cool“ und man könne damit auch die ältere Generation erreichen, aber damit sich das wirtschaftlich trägt, brauche es eine größere Anschubfinanzierung – und die hat er nicht. Also fiel die Wahl auf das Produkt Newsletter und den US-amerikanischen Anbieter „Substack“. „Für einen kostenlosen Newsletter braucht man so gut wie keine Investitionen – im Prinzip kann man von heute auf morgen damit loslegen.“

Was er in den letzten Monaten gelernt hat? „Ein kleines Kollektiv von zwei, drei Leuten wäre für den Anfang schon gut gewesen.“ So hätten die Leser:innen oft das Gefühl, dass es eine One-Man-Show ist und Gerda mit Jacob Queißner gleichzusetzen ist. Im Sommer 2024 dominierte die Berichterstattung über Wahlen – Kommunal, Europa, Landtag. Unter anderem ist die Landtagswahl in Thüringen so ausgegangen, dass die AfD die meisten Stimmen bekommen hat. Auch für Gera ergeben sich daraus viele neue Themen.

Das Ziel: Eine Lücke füllen

„Ich möchte eine Lücke füllen, die es in der Geraer Presselandschaft gibt“, sagt der 24-jährige Gründer selbstbewusst. Damit spielt er vor allem auf die bereits erwähnten „Montagsspaziergänge“ an, die es seit 2021 gibt und bei denen sich bis zu 1.000 Menschen versammeln – Reichsbürger, Verschwörungsmystiker, Nazis. Ob das gefährlich sei? „Ich halte mich im Hintergrund, bin nicht als Pressevertreter erkennbar und fliege weitgehend unter dem Radar“, meint er. Genauso wichtig sei es, über die Gegenproteste zu berichten, die ebenfalls regelmäßig stattfinden.

In der Ende Oktober erschienenen 14. Ausgabe seines Newsletters schreibt er unter anderem: „Die wöchentliche rechte Montagsdemonstration konnte am vergangenen Montag nicht wie gewohnt stattfinden. Zwei antifaschistische Kundgebungen sowie das Herbstvolksfest und die Polizei schränkten sie ein.“ Der Teaser verweist auf einen ausführlichen Artikel mit fast 30 Fotos. Auch Historisches hat einen festen Platz in seinem Gerda-Newsletter, einfach weil es so viel gibt, auf das man als „Gerscher“ stolz sein kann.

Newsletter-Neuling Qeißner wünscht sich, dass die „Gerscher“ die Schönheit ihrer Stadt wiederentdecken.

Er verweist auf eine Tradition von Widerstandskämpfern, die in seiner Rubrik „Stadtgeschichtliches“ Erwähnung findet. Die Informationen sucht er im Stadtarchiv und vergilbten DDR-Büchern zusammen. Außerdem durchforstet er Pressemitteilungen der Stadt, Polizeiberichte und vor allem Instagram. Bislang hat er kaum Marketingbudget in die Hand genommen und ist organisch auf mehr als 430 Abonnent:innen angewachsen. Immer wieder bekommt er Anregungen aus seiner Community, wie zum Beispiel einen Veranstaltungskalender umzusetzen.

Erst einmal kein Veranstaltungskalender

„So einen Kalender gibt es schon, herausgegeben von der Stadt Gera, und das finde ich journalistisch nicht besonders anspruchsvoll.“ Also verzichtet er darauf und konzentriert sich auf sein Kernprodukt. Mit der Zeit soll sich der Newsletter übrigens Richtung digitales Magazin entwickeln. Eine Körperschaft hat Jacob Queißner derzeit nicht und er will sich auch nicht festlegen, was das in Zukunft sein wird.

„Als nächstes brauche ich Mitstreiter:innen, ein Logo und einen eigenen Gerda-Instagram-Account.“ Auf eine Website würde er vorerst verzichten. „Ich wollte erst mal sehen, wie sich das entwickelt“, erklärt er seine pragmatische Herangehensweise. Er habe das Ganze auch nicht groß beworben, weil er keine falschen Erwartungen wecken wollte.

Der Name „Gerda“ habe sich als Alliteration und in Anlehnung an „karla“ in Konstanz einfach angeboten. Sein Ziel: Der Name sollte für sich stehen. Das war bei einem anderen Namen, den er lange favorisiert hatte, nicht der Fall. Eigentlich sollte das Projekt „Aenne“ heißen – nach Aenne Biermann. Nach ihr sind eine Straße und ein Preis benannt. Immer wieder gibt es Ausstellungen mit ihren Fotografien.

Mehr zu Aenne Biermann:

Aenne Biermann (1898–1933) war eine deutsche Fotografin, die vor allem für ihre experimentellen und modernen Ansätze in der Fotografie der 1920er und frühen 1930er Jahre bekannt wurde. Ursprünglich aus Gera, Thüringen, stammend, spezialisierte sie sich auf Architekturfotografie, Naturstudien und Porträts, wobei sie oft mit Perspektiven und abstrakten Kompositionen spielte, die für die damalige Zeit revolutionär waren.

Biermann gehörte zur Avantgarde der Neuen Sachlichkeit, einer Bewegung, die sich durch klare, sachliche Darstellungen und eine präzise, realistische Bildsprache auszeichnete. Sie pflegte enge Kontakte zu anderen Künstlern und Fotografen wie Florence Henri und László Moholy-Nagy, die ebenfalls in dieser Zeit die Fotografie in Deutschland prägten. Biermanns Arbeit fand Beachtung in der künstlerischen und avantgardistischen Szene, und ihre Bilder wurden in wichtigen Zeitschriften sowie auf Ausstellungen gezeigt.

Trotz ihres Talents blieb Aenne Biermann weitgehend unbekannt, auch weil sie früh starb und ihr Werk lange nicht archiviert wurde. Heute wird sie jedoch als bedeutende Vertreterin der Avantgarde-Fotografie geschätzt, und einige ihrer Werke sind in Museen und Sammlungen zu finden.

„Gerda“ statt „Aenne“

Jetzt also „Gerda“ statt „Aenne“. In zwölf Monaten will Jacob Queißner eine stabile Finanzierung für sein Projekt auf die Beine gestellt haben. Damit will er eine halbe Stelle finanzieren und Redaktionsräume anmieten. „Im Moment sind es keine zwei Meter zwischen Bett und Schreibtisch – das ist auf Dauer kein optimaler Zustand“, erklärt er. Der Austausch mit anderen sei ihm wichtig, und zwar mit seiner Community genauso wie mit Kolleg:innen.

„Eine Art Erzähl- oder Literaturcafé wäre toll“, schwärmt der 24-Jährige. Die Redaktionsräume sollen daran angeschlossen werden. Und die ganz große Vision ist, das in jedem Stadtteil anbieten zu können. Die Idee: Eine alte Kneipe für wenig Geld übernehmen, mit Freiwilligen aufmöbeln und dann eine Stadtteilredaktion etablieren: „Wo die Leute ins Gespräch kommen, wo Treffen stattfinden und man die Geschichten, über die man schreibt, aus erster Hand bekommt.“

Eine Vision, für die er jetzt, da er den Newsletter von seinem Zimmer aus schreibt, noch in weiter Ferne zu sein scheint. Und doch gibt sie ihm Hoffnung und Antrieb. Um sich weiterzubilden, liest er Bücher wie „Lust auf Lokal – das Handbuch für Community-Journalismus“ (Disclaimer: von der Autorin mitverfasst) und nimmt an den Netzwerktreffen des CORRECTIV.StartHub teil. Ob Gemeinnützigkeit der richtige Weg ist? „Ich möchte auf jeden Fall Spenden und Stiftungsgelder einwerben“, sagt Queißner. Ohne den Freistellungsbescheid des Finanzamts ist das nicht möglich.

Gera ist die drittgrößte Stadt in Thüringen, nach Erfurt und Jena.

Fokus auf das Kernprodukt

Auch Merchandising kann er sich als Einnahmequelle vorstellen – T-Shirts, Pullover, Mützen, Aufkleber. Zusätzlicher Effekt: Solche Produkte helfen, die Identifikation mit der Stadt zu stärken. Dafür nennt er einige andere gute Beispiele. Warum also nicht ein journalistisches Produkt, das sich für Demokratie einsetzt? Oder ein gedrucktes Sonderheft über die „Ursprünge des Graffiti in Gera“ zum Preis von 20 Euro, das als Sammlerstück gehandelt werden könnte? An Ideen mangelt es Jacob Queißner nicht. Nur die Umsetzung ist als Einzelkämpfer manchmal schwierig.

Deshalb sei es im nächsten Schritt wichtig, jemanden ins Team zu holen, der oder die sich um das Organisatorische kümmert. Und so etwas wie ein Business-Developer oder ein:e Geschäftsführer:in wäre auch nicht verkehrt. Letztendlich hängt das Einkommen von der Anzahl der Mitarbeiter:innen ab. Wenn der Newsletter irgendwann bezahlt werden soll, bräuchte Queißner mindestens 62 zahlende Abonnent:innen, um 500 Euro einzunehmen. Wenn er zusätzlich Mitarbeitende honorieren möchte, müssten es mindestens 130 Abonnent:innen sein, respektive 1.000 Euro monatliche Einnahmen.

„Die Dankbarkeit der Menschen“ habe ihn anfangs überrascht. Sätze wie: „Toll, dass ihr das macht!“ Es sei ihm auch schon passiert, dass ihn eine Frau nach dem Motto ‚Sie sind doch die Gerda‘ angesprochen habe. Dabei soll das Projekt – langfristig gesehen – viel mehr sein als Jacob Queißner. Die Monopolstellung der Ostthüringischen Zeitung merke man dem Medium an. Er wolle bewusst einen anderen Weg gehen, freundlich zu den Menschen sein und hofft, dass er dadurch auch die eine oder andere exklusive Information erhalte.

Grundsätzlich bräuchte es seiner Meinung nach viel mehr Projekte wie „Gerda“, vor allem in Ostdeutschland. Anfangen könne man auch ohne Presseausweis. Seine Kernzielgruppe sind Menschen, die sich für Demokratie engagieren. Zur erweiterten Zielgruppe gehören Menschen, die demokratische Parteien wählen. „Ich möchte mit meinem Newsletter auch noch stärker Migrant:innen erreichen“. Denn auch wenn man es nicht vermuten würde, gibt es davon in Gera nicht wenige. Ein Stadtteil wird sogar „Klein-Aleppo“ genannt.

Der freie Journalist wünscht sich, dass man den Osten, vor allem die Nachwendezeit, genauer betrachtet und insgesamt weniger pauschalisiert. „Ich kenne viele Menschen, die sich engagieren, die kommen in der allgemeinen Berichterstattung kaum vor.“ In den 80er Jahren hatte Gera mehr als 130.000 Einwohner:innen. „Gerda“ soll dazu beitragen, dass es in den nächsten Jahren zumindest nicht weniger als 95.000 werden. „Gera ist eine Stadt mit viel Potenzial, wir haben eigentlich viel zu bieten – leider geht das oft unter“, so Gründer Jacob Queißner.

Total
0
Shares
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

You May Also Like
Total
0
Share