Gemeinsam Demokratie feiern

Wie man als kleines Lokalmedium ein Demokratiefestival auf die Beine stellt

Das Bürgerportal in-gl.de hat mit einem bunten Demokratiefestival für die Europawahl mobilisiert und das Gemeinschaftsgefühl der demokratisch Denkenden gestärkt. Mitten auf dem Marktplatz hat es dabei gezeigt, wie ein sehr kleines Team eine sehr große Veranstaltung stemmen kann.  


Diskussionsrunden mit lokalen Kandidat:innen gehören zum Pflichtprogramm einer guten Lokalredaktion. Sie können aber ermüden und locken immer weniger Leute an. Daher bietet das Bürgerportal Bergisch Gladbach zwar seit 2013 zu jeder Wahl eine große Veranstaltung – setzt inzwischen aber mit einer „WahlArena“ auf viel Publikumsbeteiligung und Unterhaltung.

Im Frühjahr 2024 stand die Europawal nach der Correctiv-Recherche über den „Geheimplan Deutschland“ in einem besonderen Kontext. Auch in Bergisch Gladbach waren die Menschen auf die Straße gegangen, hatten Demokratie-Bündnisse gegründet und schauten nun mit Sorge auf das Erstarken der AfD.

Daher hat das Bürgerportal die geplante „WahlArena Europa“ kurzfristig zu einem „Europa- und Demokratiefestival“ umgebaut. Mitten auf dem Marktplatz, mit einer Vielzahl von Gesprächsformaten, Musik, Theater und Essen.

Unsere Ziele

  • für die Europa-Wahl mobilisieren,
  • Chancen für eine Verständigung zwischen den Lagern ausloten,
  • das Gefühl der Selbstwirksamkeit der demokratisch Aktiven stärken,
  • das Bürgerportal als Plattform der Information und des Austausches noch stärker in der Stadtgesellschaft platzieren.
Correctiv-Reporter Marcus Bensmann (links) spricht über die Recherche zum Geheimplan Deutschland. I Fotos: Thomas Merkenich

Die Zielgruppen

Grundsätzlich spricht das Bürgerportal die gesamte Bevölkerung der Stadt an, über alle politischen Lager und sozialen Grenzen hinweg. Daher sind alle Angebote  kostenlos zugänglich. Auch bei diesem Festival war die ganze Stadtgesellschaft angesprochen.

Gruppen, die in der Regel keine politischen Veranstaltungen besuchen und / oder davon auch gar nicht erfahren, haben wir durch den weit offenen Veranstaltungsort erreicht. Zudem haben wir mit Migranten-Vereinen kooperiert.

Ein besonderer Fokus galt Jungwähler:innen. Diese haben wir direkt über die Schulen und Jugendzentren sowie über Instagram angesprochen und mit den Workshops besonderen Angebote gemacht.

Das Programm

Unterhaltung: Mit Musik und Theater sorgen wir für eine positive Atmosphäre mit viel Anziehungskraft. Beteiligt sind Chöre, Jugendbands und Ensembles der Musikschule, die zum Schluss bei einem Flashmob die Europahymne gemeinsam vortragen.

Elemente

  • Auftritte von Schülerbands und Chören
  • musikalischer Flashmob
  • Improvisationstheater, Standup-Comedy
  • Szenische Lesung der Correctiv-Recherche

Politische Bildung: in Workshops wird über Grundlagen der Demokratie diskutiert. Themen waren unter anderem: Wir erkenne ich Fake News? Wie rede ich mit Rechtsextremen – in der Schule, in der Familie? Wie reagiere ich auf Alltagsrassismus?

Direkte Kommunikation: Mit einer Reihe von Gesprächsformaten versuchen wir, Gespräche über gefestigte Weltanschauungen hinweg zu initiieren und einen offenen Dialog zu fördern. Es gibt keine Vorträge und Podiumsdiskussionen, sondern offene Formate:

  • Unterhausdebatte: zwei Gruppen diskutieren über die Vor- und Nachteile Europas, dabei arbeiten die Moderator:innen heraus, dass die Haltungen gar nicht so weit auseinander liegen
  • Speakers-Corner: Promis, Vertreter:innen der Stadtgesellschaft und „normale“ Bürger:innen halten einen dreiminütigen Impulsvortrag, danach spontane Diskussion am Thementisch
  • Speed-Dating: Vertreter:innen aus der lokale Politik, Vereinen und Verbänden stehen für Kurzgespräche zur Verfügung
  • Offene Gesprächstische

Wahl- und Demokratiemesse: Parteien und ihre Kandidat:innen stehen nicht im Vordergrund. Sie konnten sich in einem separaten Bereich mit einem Stand präsentieren und an den Gesprächen als Bürgerinnen und Bürger beteiligen. Dort waren auch das städtische Wahlbüro, das Bündnis für Demokratie und Vielfalt, der Integrationsrat und das Klimabündnis vertreten.

Lokale Akteure wie die örtliche Musikschule haben sich am musikalischen Rahmenprogramm beteiligt.

Das Geheimnis des Erfolgs

Ein riesiges Programm, das wir als sehr kleine Redaktion nur mit Hilfe von Kooperationspartnern stemmen konnten. Im Vorfeld haben wir potenzielle Partner gezielt angesprochen, Vorschläge gemacht und ins Gesamtkonzept eingebunden.

Partner waren unter anderem:

Correctiv: Das FaktenForum hat Workshops angeboten und eine lokale Faktenchek-Initiative angeschoben. Chefreporter Marcus Bensmann stand für eine moderierte Fragerunde zur Verfügung

Theas: Das lokale Theater hat das Theaterstück zum „Geheimplan Deutschland“ adaptiert und in einer halbstündigen szenischen Lesung auf die Bühne gebracht. Weitere Schauspieler:innen haben das Publikum mit Improvisationstheater auf den Marktplatz gelockt.  

Die Städtische Musikschule hat ein Mini-Konzert und einen musikalischen Flashmob organisiert, bei dem zum Schluss Vertreter:inen diverser Chöre gemeinsam mit dem Publikum die Europa-Hymne gesungen hat.

Riff-Reporter: Carina Frey und Rainer Kurlemann haben ihr Format „Unterhausdebatte“ zum ersten Mal unter freiem Himmel erprobt, mit dem Thema „Brauchen wir mehr oder weniger Europa“.

SolidarConsult: Die gemeinnützige Bürgerbeteiligungsberatungs-Gesellschaft hat die SpeakersCorner und das Speeddating organisiert.

Das Jugendzentrum Cross hat Kinder mit Malaktionen beschäftigt und Jugendliche zu einer Geschicklichkeits-Challenge herausgefordert.

Die Städtepartnerschaftsvereine haben ein internationales Büffet angeboten.

Der lokale Energieversorger hat eine Wasser-Bar aufgestellt.

Die Stadt Bergisch Gladbach hat den gesamten Marktplatz und die Sitzungsräume im Rathaus zur Verfügung gestellt.

Der eigene Aufwand

Dank der vielen eigenständig agierenden Partner beschränkte sich die Aufgabe der Redaktion „nur“ noch darauf, das Programm zu konzipieren, alle Beteiligten zu koordinieren und für den reibungslosen Ablauf zu sorgen.

Die größte und mit Abstand aufwändigste Arbeit war es, im Vorfeld auf das Festival aufmerksam zu machen und die Besucher:innen zu mobilisieren.

An der Konzeption des Festivals haben alle vier Redaktionsmitglieder gearbeitet, die Organisation hat weitgehend eine Person übernommen, für den Ablauf des eigentlichen Festivals haben wir sechs studentische Hilfskräfte engagiert.

Kosten und Finanzierung

Bühne und Technik, Werbematerialien und Verpflegung haben rund 6.000 Euro gekostet. Die Ausgaben blieben aber nur deshalb so niedrig, weil Technik- und Gastronomiepartner zum Selbstkostenpreis gearbeitet haben.

Die Akteure haben auf Honorare verzichtet, wir mussten nur Reisekosten übernehmen. Für eine öffentliche Förderung war das Bürgerportal als privatwirtschaftliches Unternehmen nicht antragsberechtigt. Daher haben wir einen Großteil der Kosten über lokale Sponsoren (Banken, Apotheke, Energieversorger) gedeckt.

Der Zugang zu allen Veranstaltungen war kostenfrei; Besucher:innen konnten aber ein Unterstützer-Ticket für 15 Euro buchen – das haben immerhin 40 Personen gemacht.

Das Interesse an den Gesprächsformaten vonseiten der Bevölkerung war groß.

Das Ergebnis

Bei strahlendem Wetter kamen mehr als 500 Besucher, vor allem die Lesung des Correctiv-Theaterstücks mit der anschließenden intensiven Diskussion zog sehr viele Zuhörer:innen in ihren Bann.

Für die SpeakersCorner hatten sich mehr als 30 Redner:innen angemeldet, darunter neben einfachen Bürger:innen fünf Kandidat:innen für das Europaparlament, zwei Landtagsabgeordnete und zwei Bundestagsabgeordnete, die vor allem beim Thema Ukraine für intensive Diskussionen sorgten.

Viele der Beteiligten waren begeistert über die freundliche Gesprächsatmosphäre und die vielfältigen Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen. Einige saßen nach dem offiziellen Abschluss des Festivals noch lange an den Thementischen zusammen.

Zwei Reaktionen aus dem Publikum:

„Mir hat gefallen, dass es ein friedliches Miteinander demokratischer Parteien war, trotz aller Gegensätze und mit Respekt. Genau das richtige Zeichen in einer Zeit, wo die Gewalt gegenüber Andersdenkenden zunimmt. Ich fühlte mich in dieser freundlichen, friedlichen Stimmung wohl. Das hat mich im Hinblick auf unser gesellschaftliches Klima zumindest in diesem Moment ein bisschen zuversichtlicher gemacht.“ Doris Graff

„Die Zeit verging wie im Fluge und hat mir wieder gezeigt: Gut das wir in Deutschland eine Demokratie erleben und sie leben können. Dass, was die Demokratie gefährden kann, ist unsere oft vorhandene Gleichgültigkeit. Der Nachmittag hat sehr gut getan.“ Bernhard Hagermann

Hat es sich für das Bürgerportal gelohnt?

Wir konnten den Ruf des Bürgerportal als Community-Plattform festigen, neue Leser:innen auf uns aufmerksam machen und in den folgenden Wochen weitere zahlende Mitglieder für unseren informellen Freundeskreis gewinnen. Ihre Zahl ist von 880 im Frühjahr auf inzwischen 940 gewachsen.

Wir selbst haben in Form einer Reportage, einer Foto-Reportage und eines Videos über das Festival berichtet und damit noch einmal eine große Reichweite erzielt.

Fünf Learnings

1. Man kann mit der Planung gar nicht früh genug anfangen; der Termin muss mindestens ein halbes Jahr im Voraus mit den politischen Akteuren und vor allem mit den Schulen abgesprochen werden; Ferienzeiten und Brückentage sind ausgeschlossen.

2. Wenn man die Ziele klar kommuniziert, ist es relativ leicht, Partner-Institutionen zu gewinnen. Der Abstimmungsbedarf ist allerdings hoch.

3. Lokale Unternehmen sind in der Regel nicht bereit, für politische Veranstaltungen als Sponsor aufzutreten, auch nicht für überparteiliche. Daher sind gute und vertrauensvolle Beziehungen zu potenziellen Sponsoren extrem wichtig.

4. Prominente Partner wie Correctiv sorgen für Aufmerksamkeit, dennoch ist ein solches Festival kein Selbstläufer. Eine intensive Bewerbung über eigene Kanäle, Plakate und Mailings ist essenziell.

5. Risiken muss man in Kauf nehmen. Wir hatten keinen adäquaten Plan B für schlechtes Wetter – aber das Wetter war großartig. Der Marktplatz an einem Freitagnachmittag war genau der richtige Ort.

Ausblick

Schon während des Festivals kamen Forderungen nach regelmäßigen Wiederholungen auf. Trotz des hohen Aufwands wollen wir uns dieser Aufgabe auch stellen und weitere offene Formate im Vorfeld von Wahlen entwickeln.

2025 ist in Nordrhein-Westfalen ein Superwahl-Jahr: Im September werden Bürgermeister, Stadtrat, Kreistag, Landrat und die Bundestagsabgeordneten neu gewählt; der Wahltermin liegt ungünstig kurz hinter den Sommerferien.

Daher planen wir zwei Marktplatz-Veranstaltungen:

  • Im Mai 2025 konzentriert sich die Neuauflage des Demokratiefestivals auf die Forderungen der Bürger:innen an die Politik; dazu wollen wir eine Citizen-Agenda aufstellen.
  • Ende August 2025 holen wir die WahlArena auf den Marktplatz und konfrontieren die Kandidat:innen mit der Agenda der Bürger:innen.
Menschen interessieren sich für Politik und auch für Europa, allerdings müssen sich Redaktionen heutzutage ungewöhnliche Formate überlegen.

Fazit

Auch als sehr kleines Lokalmedium kann man große Veranstaltungen auf die Beine stellen, wenn man in der Stadtgesellschaft gut vernetzt ist, Partner einbezieht und agil unterwegs ist. Wenn es gut läuft, wird sichtbar, was Community-Journalismus eigentlich ist. Und wie wichtig er ist.

Fun Fact

Der Kölner Stadt-Anzeiger als lokale Konkurrenz hat das Festival komplett ignoriert; weder wurde die Veranstaltung angekündigt, noch wurde über sie berichtet. Das führte zu einige empörten Leserbriefen und zu wenigstens zwei Abo-Kündigungen.

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